Religion, Fundamentalismus & die Wahrheit

Religion, Fundamentalismus & die Wahrheit

Der vor kurzem im Pfarrerblatt veröffentlichte Artikel „Gelebte und behauptete Wahrheit“ (direkter Link) (Archiv) von zwei Universitäts-professoren, die u.a. Hauptverantwortliche für die Ausbildung von Nachwuchstheologen an deutschen Hochschulen sind, ließ viele Leser mit einer Mischung aus Verwunderung und größtem Unbehagen zurück.

 

Hat sich die kontemporäre Theologie von jedem einzelnen Sola, den Grund-einsichten der Reformation, verabschiedet?

 

Sind im Jubiläumsjahr, in dem sich der Auftritt Martin Luthers vor dem Reichstag zu Worms 1521 zum 500. mal jährte, die Worte des couragierten Reformators vor Kaiser, Welt und Gott in Sinnlosigkeit verklungen?

 

Grundfragen der biblischen Exegese, christliche Epistemologie, Dogmatik und biblischer Systematik scheinen vergessen, aufgegeben oder werden völlig anders gelebt (und gelehrt) als in den vergangenen 2000 Jahren der Kirchengeschichte. Vor bald genau zwei Millennia warnte Paulus

die Epheser: „auf daß wir nicht mehr Kinder seien und uns bewegen und wiegen lassen vonallerlei Wind der Lehre durch Schalkheit der Menschen und Täuscherei, womit sie uns erschleichen, uns zu verführen.“ Epheser 4,14

 

Die Autoren stellen sich vehement gegen die Rückkehr eines religiösen Fundamentalismus, der als „Gegenteil und Aufhebung“ der (wahren) Religion charakterisiert wird.

Leider ist an keiner Stelle definiert, was dieser „Fundamentalismus“, besonders im Christlichen Kontext, genau sein soll. Es findet sich lediglich eine Reihung möglichst negativer Attribuierungen

— sogar vom Problem der „fundamentalistischen Entartung“ ist die Rede. Auch zitierte Definitionen, in denen „Fundamentalismus“ als Anti-These zur Moderne gestellt werden, helfen da wenig weiter, da die sog. „Moderne“ schon lange etwas ganz anderes geworden ist, als was man in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts für „modern“ hielt.

Gerade im heutigen Sprachgebrauch ist dieses Wort von seiner ursprünglichen Bedeutung so sehr entkernt worden, daß es als universelle Stigmatisierung einer Vielzahl von Ideologien,

Geisteshaltungen oder Überzeugungen verwendet werden kann, die alle durch „ein kompromissloses Festhalten an den eigenen Grundsätzen“ gekennzeichnet sind.

Plötzlich kann sog. „Christlicher Fundamentalismus“ mit sog. „Islamischem Fundamentalismus“ zusammen kategorisiert werden, obwohl beide so weit entfernt voneinander sind wie der Osten vom Westen.


Dieser dialektische Trick lässt sich ebenso bei dem Begriff „Märtyrer“ beobachten, mit dessen Hilfe islamistische Selbst-/Massenmörder und Zeugen des Christlichen Glaubens, die bereit sind, für ihre Überzeugung den Tod zu erleiden, in eins gesetzt werden.

Obwohl beide Phänomene das exakten Gegenteil darstellen.

 

Die Autoren machen das Berufen auf „irgendwelche als für wahr gehaltene Fundamente“ als einen weiteren Makel des „Fundamentalismus“ aus, welches eine „lebendige Wahrnehmung“ ersetzen würde. Es wird jedoch leider nirgends begründet, wo sich hier der logische Gegensatz befinden soll.

Warum sich „Satzwahrheiten“ und „eigenes differenziertes Sehen“ ausschließen und die eigene Wahrnehmung dafür „unterdrückt und hintergangen“ werden müsste.

 

Es ist vielmehr das genaue Gegenteil der Fall:

Zunächst gilt logisch betrachtet für buchstäblich jede Überzeugung, daß es ein „für wahr gehaltenes Fundament“ geben muss. Selbst eine völlig offene Ideologie des ständigen Wandels, die sich an alles und jeden sowie alle Änderungen anpassen will, muss an dieser Wandlungsbereitschaft als unverrückbaren Grundsatz festhalten, von dem aus „deduziert [wird], wie Welt zu verstehen ist“.

Per definitionem ist also Jeder „Fundamentalist“ bezüglich irgendeines Glaubens. (Auch die Autoren des Artikels!)

 

Für einen Christen war und ist dieses Fundament immer die Heilige, von Gott offenbarte Schrift, auf dem er seinen Glauben gründet und nach der er sein Handeln und Leben ausrichtet, auf den Urheber hin: Jesus Christus.

Vgl. hier etwa die Worte des Irenäus aus dem 2. Jahrhundert:

 

„Von keinem andern als von denen, durch welche das Evangelium an uns gelangt ist, haben wir Gottes Heilsplan gelernt. Was sie zuerst gepredigt und dann nach dem Willen Gottes uns schriftlich überliefert haben, das soll das Fundament und die Grundsäule unseres Glaubens werden.“ (1)

 

Sowie These 1 der Barmer Erklärung aus der jüngeren Vergangenheit (über 1800 Jahre und einen angeblich existierenden ‚garstigen Graben‘ hinweg):

 

 „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.

Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“ (2)

 

Die Heilige Schrift als Norma normans ist also keinesfalls eine neue Idee Luthers oder gar des

amerikanischen Protestantismus des 19. Jahrhunderts.

Bloß menschliche Tradition — παράδοσιν τῶν ἀνθρώπων — , welche im Widerspruch zu den Geboten Gottes steht, wurde bereits in den Evangelien von Christus selbst kritisiert.

Es wird eines der Geheimnisse der Verfasser bleiben, warum gerade der sog. „Fundamentalist“ nicht „praktisch“ mit „den Texten“ umginge und seine „Lebenswelt nicht durch die Texte formen und in Frage stellen“ ließe, wo „Fundamentalisten“, welche ihr ganzes Leben und Handeln nach eben diesen biblischen Texten ausrichten wollen, genau dies sonst immer vorgeworfen wird.

Leider findet sich in dem ganzen Artikel nicht die geringste Beweisführung, warum diese wahre „gelebte Religion“, die den Autoren vorschwebt — besonders in ihrem Gegensatz zum sog. „Fundamentalismus“ — nun für sich überhaupt wahr sein soll.

Kein logisch-deduktives Argument, kein biblisch-theologischer Beleg werden präsentiert.

Der Vorwurf der Autoren, der „Fundamentalist“ blende „seine eigene Perspektivität aus und behauptet seine Perspektive als feststehenden Grund“, ist also ein sehr zweischneidiges Schwert!

 

An keiner Stelle in dem Aufsatz ist eine These, eine Lehre zu lesen, welche über die subjektive „Perspektivität“ menschlicher Erfahrungen der Welt hinausragte und offen den Anspruch auf objektive Wahrheit und zu glaubende Doktrin erhebt.

Aber: gerade in der so rigorosen Ablehnung eines sog. „Fundamentalismus“ wird ihr sehr wohl vorhandener verdeckter Absolutheitsanspruch nur allzu deutlich.

Die einzige ‚Begründung’ scheint nur qua Autorität, qua Macht der Verfasser zu erfolgen, welche ihre eigenen Dogmen ex universitate verkünden.

Dagegen forderte Luther noch in Worms „Schriftzeugnisse und klaren Grund“.

Der Rat der EKD veröffentlichte dieses Jahr zur ‚Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen‘:

 

„Die Anerkennung der Heiligen Schrift als Norm ist ein Akt der Selbstrelativierung aller Kirchenleitung und institutioneller Autorität. Es ist das Evangelium, dessen geistgewirkte Selbstdurchsetzung […] das kirchliche Amt dienen will.“ (3)

 

Befremdlich auch das einzige Schrift-Zitat aus der Abendmahlsliturgie, welches in den Kontext einer mystisch-exoterischen Eucharistie-Theologie gestellt wird.

Beides wäre eher im römischen Katholizismus zu erwarten, als in einer Theologie, welche sich in der Nachfolge der Reformation begreift.

Nicht nur diese apodiktischen Sätze fallen unter die von den Autoren selbst aufgestellten Kritik eines Glaubensverständnisses, welches als „ortlose Wahrheiten“ postuliert, geglaubt werden muss.

Ist diese „Wahrheit“ nicht ebenso behauptet, wie die Autoren es den „Fundamentalisten“ vorwerfen wollen?

Philosophisch müsste zunächst geklärt werden, worin der unüberwindbare Gegensatz zwischen

„behaupteter und gelebter Wahrheit“ überhaupt besteht. Wahrheit ist Wahrheit, unabhängig davon, wie das Individuum auf sie reagiert oder mit ihr interagiert.

Die Wahrheitsfrage ist heute noch so aktuell, wie zu der Zeit, als sie von Pontius Pilatus gestellt wurde: Τί ἐστιν ἀλήθεια?

Nach protestantischem Verständnis stand die Antwort vor ihm, der „Weg die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6).

Zu dem bis heute jeder durch Sein Wort, als „Fundament und Grundsäule

unseres Glaubens“ (Irenäus), Zugang haben kann. Einzig die Heilige Schrift ist dazu geeignet und genügend, wie Athanasius sagt:

 

„Es genügen ja die heiligen und inspirierten (θεόπνευστοι) Schriften zur Verkündigung der Wahrheit“ (4)

 

Besonders befremdlich wirken in diesem Zusammenhang die in dem vorliegenden Text fomulierten Definitionen, welche die Autoren für ihre „wahre, gelebte Religion“ anbieten, die im deutlichen und unüberwindbaren Gegensatz zu den klaren Zeugnissen der Schrift und Aussagen der Kirchenväter stehen:

 

 

Auch wenn diese Replik sich explizit auf einen konkreten Aufsatz zweier Professoren bezieht, stehen die von ihnen vertretenen Positionen doch symptomatisch für die kontemporäre akademische Theologie — unabhängig der Personen.

Gerade die obige tabellarische Gegenüberstellung führt klar vor Augen, wie weit sich die

Universität und damit auch die Theologie in der evangelischen Kirche von den klaren Zeugnissen von Bibel und Bekenntnis entfernt haben.

Welche Auswirkungen wird dies auf die Kirche als Institution (bei 200.000 Kirchenaustritten/Jahr), die Universitäts-Theologie, die sich protestantisch nennt und in der Nachfolge der Reformatoren, der Kirchenväter und der Apostel wähnt, haben?

 

Und noch wichtiger: Welche Auswirkungen wird diese Theologie auf den Glauben, die Seelen der Menschen und ihre Beziehung zu Jesus Christus haben?

 


(1) Irenäus von Lyon: Contra Haereses, III.,1,1

(2) Barmen, These I.

(3) EKD: Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen, 2021,           S. 41

(4) Athanasius: Contra Gentes 1